Wieder gelesen: „Dune“

Urlaub muss leider manchmal sein. Und jetzt die gute Nachricht: Urlaub ist vorbei, Ybersinn geht weiter. Er hat übrigens nie gerastet. Die Zukunft ist überall, egal, wo und wann man sich aufhält. Das galt auch schon vor rund 50 Jahren, als ein überaus hellsichtiger Roman geschrieben wurde:

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Wieder gelesen: „Dune“

Wir leben auf einem Planeten. So weit, so schlecht. All diese komplexen Zusammenhänge! Ökologie, Wirtschaft, Politik. Gesellschaft gar! Da fragt man sich doch: Wenn es schon ein derart komplizierter Ort sein muss, an dem man lebt, und nicht beispielsweise eine Telefonzelle in der Jupiter-Umlaufbahn, warum gibt es dann nicht wenigstens hin und wieder Aha-Erlebnisse, die einem klarmachen: Horch mal, Alter, so übel ist es hier eigentlich gar nicht, es könnte viel, viel schlimmer sein; glaubst du nicht?; dann lies mal dieses Buch hier …

Warum ich ausgerechnet „Dune“ (deutscher Titel: „Der Wüstenplanet“) von Frank Herbert nach Malta mitgenommen habe, diesen alten Schinken? Das liegt daran, dass meine Finger sich vorm Urlaub im DVD-Regal die „Dune“-Verfilmung von David Lynch ausgesucht hatten. Wir spielen öfters auf diese Weise „blind date“, meine Finger und ich: Sie dürfen was aussuchen, und ich schaue mir das dann an. „Dune“ zählt gewiss nicht zum besten, was David Lynch abgeliefert hat, aber der Film machte mich wieder neugierig auf das Buch. Mehr als dreißig Jahre ist’s her, dass ich die Taschenbuchausgabe von 1978 las. Zeit für eine Wiederbegegnung. Gerade bin ich fertig und habe den zerfledderten Wälzer weggelegt, und plötzlich finde ich es gar nicht mehr so übel hier auf unserem kleinen, komplexen Planeten. Es gibt Schlimmeres. In „Dune“.

Intrigen über Intrigen über Intrigen

Tausende von Jahren in der Zukunft. Die Menschheit hat sich über die Galaxis ausgebreitet und ein Imperium gebildet, das von einer dünnen Schicht von Feudalherren gelenkt wird. Diese „Hohen Häuser“ haben nichts Besseres zu tun, als ständig gegeneinander zu intrigieren. Dieses System, in dem ein Menschenleben nichts, der Profit jedoch alles zählt, läuft seit Jahrtausenden stabil. Unterschwellig strebt es dennoch etwas Neuem, einem Höhepunkt entgegen, denn die Schwesternschaft der Bene Gesserit, manchmal auch als „Hexen“ bezeichnet, verfolgt seit neunzig Generationen das Ziel, mit Hilfe genetischer Zuchtwahl den „Kwisatz Haderach“ zu erzeugen, das Überwesen, das dahin gehen kann, wo die Schwestern nicht hingehen können – an einen metaphysischen Ort, an dem die Zeitlinien zusammenlaufen und den sie von Ferne sehen, aber nicht erreichen können. Das kann nur ein Mann, ein Messias.

Intrigen über Intrigen über Intrigen. Eine davon: Der Imperator – der in einem solchen Roman natürlich nicht fehlen darf – macht sich mit einem der Hohen Häuser, den dekadenten Harkonnen, insgeheim gemein, um ein anderes, die kernigen Atreides, zu vernichten. So viel Schwarz-Weiß-Zeichnung darf sein. Doch die Verschwörer ahnen nicht, dass Paul Atreides, der Sohn des Herzogs Leto, der „Kwisatz Haderach“ sein könnte. Ausgerechnet nach Arrakis werden die Atreides geschickt, um die Spice-Produktion anzukurbeln, und damit nimmt das Wüsten-Epos seinen Lauf.

Dieses Spice ist der Motor des galaktischen Feudalsystems; ohne Spice geht nichts. Doch diese Droge gibt es nur auf einem einzigen Planeten der Galaxis: auf Arrakis, Dune, dem Wüstenplaneten. Sie erweitert das Bewusstsein und lässt nicht nur die Schwestern der Bene Gesserit in die Zukunft sehen. Die ganze Galaxis ist abhängig vom Spice. Wie sehr, das wird den absolut mitleidlos agierenden „Dune“-Protagonisten erst spät bewusst. Für manche zu spät: Indem sie die Kontrolle über das Spice verlieren, ist das Feudalsystem dem Untergang geweiht.

Das kleinste Sandkorn ist religiös aufgeladen

„Dune“ ist eine Messias-Geschichte und erzählt die Geschichte einer Revolution – und zwar einer religiösen Revolution. Auf Arrakis ist selbst das kleinste Sandkorn noch religiös aufgeladen. „Gott schuf Arrakis, um die Gläubigen zu prüfen“, heißt eine der Sentenzen, die den „Dune“-Kapiteln vorangestellt sind. Gott tritt in „Dune“ nicht in Erscheinung, doch die Protagonisten, allen voran Paul Atreides, ringen mit ihrer „Bestimmung“. So ist es die Bestimmung des Paul Atreides, den Djihad zu bringen. Seine Versuche, der Bestimmung Selbstbestimmung entgegenzusetzen, versanden hilflos. Selbst dem Übermenschen sind Grenzen gesetzt.

In „Dune“ stolpert man ständig über Parallelen zur Erde des 21. Jahrhunderts, und das ist umso erstaunlicher, als die Originalausgabe des Buchs von 1965 datiert. Spice, der Motor jener fiktiven galaktischen Gesellschaft, ist nichts anderes als eine Metapher für Erdöl. Die korrupten Verquickungen zwischen Raumfahrergilde, Hohen Häusern und Imperator lassen einen ganz zwanglos an die heutige Melange aus politischer und wirtschaftlicher Kaste denken, die an vielem interessiert ist, aber offensichtlich nicht in erster Linie am Gemeinwohl. Und wie in „Dune“ eine religiöse Bewegung entsteht, die das korrupte System per Djihad letztlich hinwegfegt, so haben wir es heutzutage auf Erden überall mit erstarkenden fundamentalistischen Bewegungen zu tun, und zwar keineswegs nur in der Wüste. In den USA gewinnen evangelikale Christen immer mehr an Einfluss. Orthodoxe Juden setzen in Israel absurde, anachronistische Ideen wie Geschlechtertrennung in öffentlichen Verkehrsmitteln durch. Europäische Populisten schreiben sich den Hass auf Ausländer, vor allem auf Muslime auf die Fahnen. Überall entstanden anti-aufklärerische Bewegungen, die auf Abgrenzung aus sind. Da möchte man froh sein, dass wir keine Bene Gesserit haben, die einen irdischen „Kwisatz Haderach“ heranzüchten. Nein, stattdessen haben wir die Bilderberger, die Neokonservativen und -liberalen mit ihrem Mantra vom freien Übermarkt, der alles regeln kann.

„Dune“ erschien, ich sagte es schon, im Jahr 1965, und ich bin willens anzunehmen, dass Samuel P. Huntington, der Autor von „Clash of Civilizations“ – einem der einflussreichsten Bücher des ausgehenden 20. Jahrhunderts -, „Dune“ gelesen haben muss. Das Gleichnis vom Wüstenplaneten ist heute aktueller als vor rund 50 Jahren. Wahrlich gute Science-Fiction, so klug und so hellsichtig, dass sie unsere Gegenwart noch treffender reflektiert als die von 1965. Beinahe aufatmend taucht man aus diesem Roman wieder auf: Zum Glück ist es bei uns nicht so schlimm. Noch nicht. Aber die Telefonzelle in der Jupiter-Umlaufbahn wartet.

Frank Herbert: Der Wüstenplanet. Heyne Verlag. Bearbeitete Neuausgabe von 2001. 880 Seiten. ISBN 3453186834. Das Bild oben zeigt meine Taschenbuchausgabe von 1978.

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