Ursprünglich begann „Der Osiris-Punkt“ mit einem Mord

Auf was man so alles stößt beim Aufräumen … Es ist wirklich erstaunlich. Und es geht uns wie immer: Wir können einfach nichts wegwerfen!

Beim Großreinemachen des Ybersinns im März 2019 stießen wir auf dieses Stück von Lutz Büge, das ein älterer Prolog zum Roman Der Osiris-Punkt ist. Dieser Prolog kommt in der Endfassung des Romans nicht vor. Er wurde am 29.8.2012 als Leseprobe auf Ybersinn.de veröffentlicht und hatte damals natürlich eine andere Anmoderation. Wir haben ihn für Dich aufbewahrt und in die Kategorie „Lies!“ gepackt. Die unten folgenden Kommentare sind von damals. Der Beitrag kann nicht mehr kommentiert werden.

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Ursprünglich begann Der Osiris-Punkt mit einem Mord

Prolog

Tagebuch G. F. Carnavaughn, Luxor, 28. Februar 1834

Unglücklicher, katastrophaler Tag! Das Haus entweiht durch Mord. Mord! Drei Stiche in den Leib und dann noch ein Schnitt quer durch die Kehle. Dieselbe Kehle, die so oft über Britannien gesiegt hat, indem sie mich unter den Tisch trank!
Und der Papyrus – fort!
Ich fasse nicht, dass Robert tot sein soll. Und dass es keine Möglichkeit mehr geben soll, den Streit der vergangenen Nacht auszuräumen. Es ging um einen Papyrus, den Robert gefunden hatte und den wir uns gemeinsam ansahen. Alberne Geschichte! Wenn ich mich zu erinnern versuche, schwimmt mir der Kopf. Ich weiß noch, dass Robert aufbrausend wurde, den Papyrus überhöhte, und je heftiger Blake und ich ihm widersprachen, umso monströser wuchs die Bedeutung des Dokuments. Das Grab des Pashedu, wo der Papyrus gefunden wurde, sei eines Königs würdig – der reine Unfug! Es ist ein schönes Grab, aber auch ein kleines. Dass die Schotten so leicht zu reizen sind!
Blake ist ebenfalls entsetzt. Er sagt, ihn halte es keine weitere Nacht in meinem Haus. Ich fürchte, nun wird ein anderer Geist Einzug in dieses Gemäuer halten.
Die Sache muss selbstredend aufgeklärt werden, aber ich fürchte, dass Blake nichts nachzuweisen sein wird. Jeder, der ihn heute Morgen gesehen und seinen Atem gerochen hat, würde ihn für vollkommen unfähig zu einer solchen Tat erklären. Wenn ich mich korrekt erinnere, konnte er gestern Abend am Schluss unserer kleinen Feier kaum mehr sein Glas halten. Ich halte es für ausgeschlossen, dass jemand in dieser Verfassung einen starken Mann wie Robert derart zurichten kann.
Und doch – ich habe das Leuchten in Blakes Augen beim Anblick des Papyrus gesehen!
Ich gebe zu, dass auch ich fasziniert war. Nie habe ich dergleichen in Händen gehalten! Man mag mir einen gewissen Abenteurergeist nachsagen, doch ich erkenne, wenn ich etwas von Bedeutung vor mir habe. Leider ging es mir wie mit so vielem, dem ich in Ägypten begegne: Von dem, was der Papyrus berichtete, verstand ich nichts, obwohl fast alles klar zu übersetzen war, und mir wurde lediglich wieder einmal gewiss, dass ich dieses Land und seine Vergangenheit nie, niemals wirklich verstehen werde. Ägypten wird mir immer ein Rätsel bleiben.
Der Papyrus ist zweifellos mehr als nur ein Wegweiser zum verschollenen Grab eines Königs namens Men-Maat-Re, mehr als die Beschreibung des Wegs zum Schlüssel einer verborgenen Kammer voller Gold. Über den Wert dieses Dokuments für die Wissenschaft vermag ich nicht zu urteilen. Doch der Papyrus war Roberts Eroberung, sein Schatz. Ich werde Roberts Andenken ehren, indem ich alles daran setzen werde, den Papyrus zurückzuerlangen. Das Zimmer dort oben, in dem Robert starb, soll erst wieder geöffnet werden, wenn dieses Werk vollbracht ist. Das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist!

Bait Challaf, 30 Kilometer vor Abydos, 28. Februar 2014

Kaputt. Marode. Debil. Dieses ganze Land war kaputt, marode und debil. Stavros hasste Ägypten. Er hasste die Wüste, er hasste den Sand, er hasste altägyptische Gräber und Tempel, und besonders hasste er Amarna, diesen Haufen Dreck und Staub aus Lehmziegeln, die längst völlig zerfallen waren. Dort hatte er bis jetzt gearbeitet, in einem Puzzle mit Millionen von Einzelteilen uralter Scherben, aber damit würde nun Schluss sein. Stavros würde nie wieder Vorarbeiter einer Grabung sein. Endgültig Schluss. Heute Nacht würde er genug Geld beisammen haben, um endlich seinen alten Traum zu verwirklichen: Er würde sich nun das kleine Häuschen in Neas Marmaras leisten können, seinem Heimatort in Nordgriechenland, direkt am Meer. Dort wollte er in Ruhe seinen Lebensabend verbringen, dort wollte er sterben, und von dort wollte er in Ruhe zusehen, wie die Islamisten demnächst hoffentlich alles wieder mit dem zudeckten, was es in Ägypten im Überschuss gab: mit Sand. Stavros musste nur den Koffer abliefern, der jetzt vor dem Beifahrersitz am Boden stand. Ein simpler Kurierdienst, eine abendliche Fahrt von Asyut zum Übergabeort, und er würde um die unglaubliche Summe von zehntausend Dollar reicher sein.
Der Hehler hatte es ziemlich eilig gehabt, den Koffer loszuwerden.
„Seien Sie vorsichtig!“, hatte er Stavros zugeraunt.
„Ich bin immer vorsichtig.“
„Nicht genug. Solange dieser Papyrus in Ihrem Besitz ist, können Sie nicht vorsichtig genug sein. Es ist der Sethos-Papyrus!“
Sethos-Papyrus? Stavros hatte noch nie von einem Papyrus dieses Namens gehört. Harris-Papyrus, ja, oder Abbott-Papyrus, Mayer B – das alles sagte ihm etwas; aber Sethos-Papyrus? Sollte er davon gehört haben?
Egal. Mochten sie Hunderte alter Schilffetzen nach Pharaonen benennen – für Stavros war es ein Job, und es war ihm egal, was der Koffer enthielt. Koffer abholen, übergeben, zehntausend Dollar, Neas Marmaras. Basta!
Es wurde rasch dunkel. Die Straße vor ihm war leer, nachdem er von der Nationalstraße Richtung Wüste nach Bait Challaf abgebogen war. Er kannte das Dorf von früheren Kurierdiensten, die er für die feinen Lordschaften übernommen hatte. Wie überall in Ägypten gab es dort alte Gräber. Man musste in diesem verrotteten Land nur irgendwo den Spaten in den Sand stechen, schon fand man mit Sicherheit irgendein Grab. Gräber, überall uralte Gräber. Stavros wollte nur noch weg aus Ägypten. Dieses Land machte ihn krank.
Kurz vor dem Dorf, einem dieser kaputten, verfallenden Dörfer aus Nilschlammziegeln, bog er nach links auf eine Piste ab, die in die Hügel zum Übergabeort führte. Die Hügel markierten den Rand der Wüste: Man verließ das Fruchtland des Niltals und fand sich fast sofort in der Wüste wieder.
Stavros fuhr auf das Plateau hinauf. Der Wind schwieg, als er den Motor abstellte. Er war etwas zu früh – Zeit genug für ein paar Schritte zu einer nahen Kuppe, von der aus man ins Tal hinabsehen konnte.
Lebewohl sagen. Auf Nimmerwiedersehen, Nil!
Er stieg aus und zuckte zusammen, als plötzlich ein Mann vor ihm stand, als sei er wie aus dem Nichts aus der Wüste aufgetaucht.
„Hey, musst du mich so erschrecken“, knurrte Stavros.
Das letzte, was Stavros Mitropoulos im Leben sah, war der schwache Schimmer des Sirius auf dem Lauf einer Pistole.

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